Eugen Cicero war ein außergewöhnlicher Pianist – für die Klassik, wie auch für den Jazz gleichermaßen begabt. Er stand weit über den herkömmlichen Kategorien von sogenannter E- und U-Musik, der Klassik und der Unterhaltungsmusik; er beherrschte alle Stilrichtungen der Klaviatur und konnte dort überall seine künstlerischen Spuren hinterlassen.
1962, als er sich nach West-Berlin absetzte, war sein Schicksalsjahr: Wäre er mit seinen Musikerfreunden in die USA gegangen, wäre er vielleicht von der dort vorherrschenden Stilrichtung des Jazz ganz ergriffen worden und würde heute in einer Reihe mit Oscar Peterson (1925-2007), Erroll Garner (1921-1977) und Dave Brubeck (1920-2012) genannt werden.
Zurück in Rumänien hätte er sicherlich den Weg eines klassischen Pianisten oder Hochschullehrers eingeschlagen. Doch Eugen war klassisch und europäisch geprägt, weshalb er sich anscheinend in Deutschland doch eine bessere Zukunft erhoffte. Wie er in Rumänien gegen das kommunistische System anspielte, so hat er in Deutschland die Klassik-Puristen irritiert. Er hat nicht einfach Werke der Klassik rhythmisiert, sondern durch die Verbindung mit Jazzelementen ein neues eigenständiges Kunstwerk geschaffen, das von der Musikbranche Classic-Jazz oder die Swinging Classics genannt wurde.
Man kann Eugen gerne auch ein „verkanntes Genie“ nennen. Er hatte aus dem Vorhandenen einen neuen Musikstil entwickelt. Das entsprach dem Zeitgeist der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen wurde experimentiert, so auch in der Musik.
Das klassische Repertoire
Eugen hat seine Herkunft, die Klassik, nie verleugnet, wenngleich er sich dem Geist der Zeit (Swing und Jazz) geöffnet hat. Dass er sich dabei zwischen die Stühle setzte, ist das typische Schicksal eines jeden Künstlers, der etwas Neues schafft: Die einen hielten es nicht für Jazz, weil er gleichzeitig Themen der Klassik verwendete und die anderen hielten seine Klassikbearbeitungen eben für musikalisch unseriös. Doch vielen Menschen hat seine Spielart gefallen. Seine Musik hatte Melodie, Rhythmus und eine Aura von Grazie und Feierlichkeit.
Aber vor allen Dingen: Er konnte einfach Klavier spielen – das konnte ihm keiner absprechen. Dennoch waren die 1960er auch eine Zeit der Katalogisierung.
Die Musik von Eugen war im gewissen Sinn populär und damit hatte sie auch den Anschein kommerziell zu sein. Es stellt sich somit die Frage, darf wahre Kunst populär sein? Die Jazz-Puristen haben oft seine Musik als sogenanntes „Easy Listening“ abgetan und dabei verkannt, dass gerade diese Art von Musik viele Menschen einfach glücklich stimmte – und was gibt es Schöneres? Was Worte nicht können, kann die Musik! Ich glaube, Eugen hat aus dem klassischen Repertoire von Bach bis Mozart, von Brahms über Puccini bis zu Gershwin alles gespielt, was ihm gefallen hat. Immer wenn mir ein Titel einfiel, wie zum Beispiel das Poème von Zdenko Fiebich (1850-1900) oder die Träumerei von Robert Schumann (1810-1856), erntete ich bei ihm ein mildes Lächeln und er zeigte mir die Schallplatte, worauf sich der Titel bereits befand.
Stücke, wie zum Beispiel die „Mondscheinsonate“, die ihm vielleicht für eine spezielle Bearbeitung nicht ergiebig erschienen, „verarbeitete“ er in dem amerikanischen Standard Sunny, welches er bei Konzerten stets als Paradestück vorführte. Bei diesem Stück bekam er den meisten Szenenapplaus.
Seit 1959 war der Franzose Jacques Loussier (1934-2019) mit seinen „Play-Bach“-Versionen auch in Deutschland sehr bekannt. Bis auf eine oder zwei Ausnahmen spielte er aber ausschließlich Werke von Johann Sebastian Bach. Eugen hingegen spielte klassische Werke aus allen Epochen und von vielen verschiedenen Komponisten. Dennoch war er – trotz dieser Vielseitigkeit – kommerziell nicht so erfolgreich wie Jacques Loussier, dessen Rhythmisierungen oft als trocken und intellektuell angesehen wurden.
Ich hatte Eugen einmal auf andere Pianisten, wie Jacques Loussier, angesprochen, darauf meinte er sinngemäß, jeder hat seine Tricks und kann sein Handwerk. Nie sprach er abschätzig oder überheblich über die Musik anderer Künstler. Für ihn gab es nur gute oder schlechte Musik und wenn er mal ein Musikstück ablehnte, lag es ausschließlich am künstlerischen Können.
Das „American Songbook“
Aufgrund seiner klassischen Herkunft sind im Gesamtwerk von Eugen die klassischen Werke in der Mehrheit. Aus dem „American Songbook“ hätte ich ihm sicherlich noch einige schöne Titel empfehlen können. Hier muss man aber bedenken, dass er in Rumänien die amerikanische Musik gar nicht hören durfte. Wie er hier auf die einzelnen Titel (wie z. B. Hello Dolly) gekommen ist, lässt sich heute nur vermuten. Ich glaube, es waren meist Empfehlungen von Mitmusikern.
Eugen erzählte mir, dass er Take The A-Train jeden Abend heimlich bei „Radio Free Europe“ gehört habe. Dieser damals in München ansässige Sender, brachte jeden Abend um 21 Uhr über den „Eisernen Vorhang“ die neueste Musik aus den USA. Die Eingangsmelodie war stets Take The A-Train mit dem Orchester von Duke Ellington (1899-1974).
Die wenigen auf dem MPS-Label enthaltenen Standards gehen vermutlich auf Empfehlungen von Peter Witte (1930-2007) und Charly Antolini (*1937) zurück. Beide haben damals im Südfunktanzorchester des Süddeutschen Rundfunks gespielt und verfügten daher über eine riesige Auswahl von gängigen Musiktiteln. Eigentlich sollten bei Hans Georg Brunner-Schwer (1927-2004) nur Klassikbearbeitungen aufgenommen werden. Wie mir jedoch berichtet wurde, benötigte Eugens Frau Lilli eine Krankenhausbehandlung, weshalb man sich entschied noch zwei Platten mit Standards zu machen. Brunner-Schwer gab dann einen Vorschuss und die Behandlungskosten waren gesichert.
So sind die Aufnahmen von Klavierspielereien und In Town entstanden. Dies freut mich besonders, weil What Kind Of Fool Am I eines meiner Lieblingsstücke ist. Diese Bearbeitung ist genauso einzigartig wie die Gesangsversion von Sammy Davis, jr. (1925-1990): Zunächst macht Eugen aus dem 4er einen 3er-Takt, danach lässt er in 12 Variationen anklingen, welche musikalischen Raffinessen in dem Stück versteckt sind. Hier zeigt sich auch Eugens Vorliebe für den Walzer. Leider hat er dieses Stück nie in sein Konzertprogramm aufgenommen.
Das französische Chanson Les feuilles mortes stammt auch aus dieser Standard-Produktion von MPS. Es wurde mehrmals von ihm eingespielt und regelmäßig in Konzerten dargeboten. Die Melodie von Joseph Kosma (1905-1969) hat natürlich auch eine starke klassische Komponente. Er war ein Ungar, der in Budapest seine klassische Ausbildung absolvierte und dann nach Frankreich emigrierte. Dort schrieb er Filmmusik und vertonte Gedichte von Jacques Prévert (1900-1977), unter anderem Les feuilles mortes, was durch die kongeniale textliche Adaption von Johnny Mercer (1909-1976) zu dem Welterfolg von Autumn Leaves führte.
Der eben erwähnte Joseph Kosma ist nicht zu verwechseln mit Vladimir Cosma (*1940) der in dem von Latemar 2021 produzierten Film über Eugen und Roger Cicero zu sehen ist. Cosma ist ein Landsmann von Eugen und wie er 1940 in Rumänien geboren, dann nach Frankreich emigriert, wo er sich als Filmkomponist etablieren konnte. Er lebt heute in Paris.
Es gibt ein Foto von Eugen mit Erroll Garner (1921-1977), als er ihm, nach einem Konzert in Berlin, ein Gemälde überreicht. Dieses Foto hing über Eugens kleinem Sekretär in seiner kleinen Stadtwohnung in Zürich. Dies war sicherlich eine wichtige Begegnung für Eugen, da Erroll von Anfang an zu seinen großen Vorbildern zählte.
Insofern sind seine Bearbeitungen von Misty, I remember April und Tea for Two als eine Hommage an Erroll Garner anzusehen. Soweit ich mich erinnere, wurde bei jedem Konzert der Name Erroll Garner erwähnt und ein Stück in seinem Stil gespielt (Subway-Konzert, 1997 und Überlingen, 1996). Nur Eugen konnte die linke Hand so wie Erroll rhythmisieren.
Schlussendlich lag der Schwerpunkt von Eugens Schaffen aber doch mehr auf der Interpretation klassischer Klavier- und Orchesterwerke, während noch viele Perlen des American Songbooks für ihn bereit lagen.
Erroll Garner
Too Close For Comfort
Als ich Eugen 1996 in einem kleinen schweizerischen Dorf oberhalb des Züricher Sees besuchte, wo er mit Angelika Meier-Hanka lebte, lag auf seinem gläsernen Flügel, den er von der Firma Schimmel geschenkt bekam, das Ultimate Fake Book mit „over 1200 Songs“. Nach der Begrüßung setzte er sich gleich an den Flügel und spielte Too Close For Comfort. Mir war dieser Titel nur aus dem Sinatra-Repertoire bekannt. Mitten im Spiel brach er plötzlich ab und legte das riesige Notenbuch zur Seite. Er hatte keine Lust mehr. Das Stück hat ihn offensichtlich nicht mehr gereizt.
Da Eugen zu den Standards nur den Zugang über die Melodie und nicht über den englischen Text hatte, war die musikalische Qualität das allein entscheidende Merkmal. Dabei zeigten sich seine hohen Ansprüche. Wenn ich ihn auf Kompositionen von Cole Porter (1891-1964) oder Michel Legrand (1932-2019) ansprach, reagierte er ehrfurchtsvoll. George Gershwin (1898-1937) schien für ihn schon ein klassischer Komponist zu sein, er hatte immer gerne ein Potpourri von ihm gespielt, wobei ich den Eindruck hatte, dass er alle Stücke von ihm im Kopf hatte und erst während dem Spielen entschied, welches er als nächstes spielen werde.
Obwohl Eugen, nach Aussage von Paul Kuhn (1928-2013) unglaublich leicht vom Blatt spielen konnte (wenn er musste!), so war er sicherlich ein Künstler, der Musik zuallererst mit dem Gehör also mit dem Gemüt kennenlernen wollte. Jedenfalls hat er, trotz meiner Bitte, das „Ultimate Fake Book“ nicht mehr aufgeschlagen. Es schien ihm einfach keine Befriedigung zu geben. Als wir uns am Abend, nach einem ausgiebigen Spargelessen verabschiedeten, wollte er mir unbedingt das Buch schenken. Ich fand das völlig inakzeptabel, weil er ja der Pianist war, der immer neue Stücke benötigte und nicht ich – aber er bestand darauf ...
… so liegt es heute auf meinem Flügel, und wenn ich es sehe, denke ich zurück an den Abend bei Eugen …, und dass er das Buch jetzt auch nicht mehr gebraucht hätte …, und heute sicherlich wieder zu der klassischen Musik zurückgekehrt wäre – dort lag seine Jugend, seine Heimat und sein Herz.
Um Eugen Cicero gerecht zu werden, haben Musikfachleute immer wieder André Previn (1929-2019) zitiert, wonach dessen Wunschtraum mit der Musik von Eugen in Erfüllung gegangen ist. André Previn soll gesagt haben: „Ich hoffe, die klassische Musik und der Jazz werden sich recht bald an einem Ort treffen, wo sich beide wohlfühlen“.
Es ist keine Frage, in der Person von Eugen Cicero sind sich die klassische Musik und der Jazz mit Freude begegnet und haben sich wohl gefühlt. Dennoch hätte Eugen mit einem professionellen Management eine noch größere Zuhörerschaft erreichen können und in mancher Hinsicht weniger Sorgen gehabt.
Norman Granz, Ray Charles
Aber Impresarios, wie Norman Granz (1918-2001) oder Martha Glaser (1921-2014) gibt es eben nur einmal und meistens nur in Amerika.
Erroll Garner, Martha Glaser
Natürlich hatte Eugen immer wieder Vermittlungen, wie zum Beispiel durch die Deutsche Künstler Agentur Bercovics in Köln, aber diese Tätigkeiten waren meist örtlich und zeitlich begrenzt. Im Grunde hat sich Eugen selbst vermarkten müssen und da stößt jeder Künstler bald an seine Grenzen. Das sieht man sehr deutlich am Erfolg seines Sohnes. Roger hat nur dank seines professionellen Managements den Weg von der Reeperbahn in das Fernsehen, zu den großen Konzerthallen und zum Eurovision Song Contest geschafft. Gemessen an der kurzen Zeit, die Eugen und Roger auf dieser Welt beschieden war, haben sie uns doch ein großartiges musikalisches Lebenswerk hinterlassen.